In letzter Zeit häufen sich Informationen über begründete Verdächtigungen von Übergriffen durch pädagogische Mitarbeiter gegenüber schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen. Dabei sind auch Vorkommnisse aus privat wirtschaftlichen Einrichtungen bzw. Mitgliedseinrichtungen bekannt.
Für den VPK stellt sich die Frage: Ist ein Ethik-Statut ein probates Mittel, um Kindeswohlgefährdung und Misshandlung in Mitgliedseinrichtungen zu mindern oder gar zu verhindern?
Um Missverständnissen vorzubeugen: Kindeswohlgefährdende Übergriffe in Einrichtungen, die eine Erlaubnis nach §45 SGB VIII haben, sind durch die Heimaufsichten der Landesjugendämter und im Zweifel durch die Staatsanwaltschaft aufzuklären und bei Tatverdacht durch die Justiz zu verfolgen. Dies gilt insbesondere bei vorsätzlichen Handlungen, wie sexuellen Übergriffen, körperlichen Sanktionen als Methode und willkürlichen physischen und psychischen Handlungen gegenüber schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen, deren Ziel furchteinflößend und persönlichkeitsverletzend erlebt wird.
Wenn wir wirklich eine pragmatische Lösung für unsere Mitglieder erreichen wollen, ist es unumgänglich dieses Thema differenziert zu betrachten.
Somit empfehle ich das Thema in Tatbestände zu klassifizieren.
1. Tatbestand: Kindeswohlgefährdung durch vorsätzliche Handlungen
z.B. sexueller Missbrauch, systematische körperliche Züchtigung, Auslösen von physischer und psychischer Erniedrigung
2. Tatbestand: Kindeswohl gefährdende Handlung aus dem Affekt
z.B. Körperlicher Übergriff nach beleidigendem Verhalten durch den Schutzbefohlenen, Nachschlagen/Treten in einer Selbstverteidi-gungssituation, körperlicher und psychischer Übergriff durch Überlastung und/oder Überforderung des Betreuers.
3. Tatbestand: Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung
z.B. Alkoholkonsum der die Handlungen gegenüber den Schutzbefohlenen beeinträchtigt, Vernachlässigung durch mangelnde Versorgung, im Weitesten grobe Aufsichtspflichtverletzung.
Vergleichen wir diese Klassifizierung mit den bekannten VorfällenI, stellen wir fest, dass es sich bei den beschuldigten Leitern der Mitgliedseinrichtungen um Kindeswohlgefährdung im Affekt bzw. um Vernachlässigung handelte.
Gemein ist allen drei Fällen, dass die Betroffenen ihren Spitzenverband nicht unverzüglich informierten, sondern dieser die Informationen nach erheblich verstrichener Zeit über dritte erhielt. In einem Fall gar aus der Presse.
In der Einschätzung ihrer Situation reagierten die drei Kollegen in gleichem Masse realitätsfern. Sie fühlten sich zu unrecht beschuldigt. Demzufolge war die Frage nach dem „Wer hat mich beschuldigt“ wichtiger, als die Überprüfung des eigentlichen Sachverhaltes. Somit wurde zumindest in 2 Fällen an der Aufklärung der Vorwürfe nicht mitgewirkt. Damit machten sich die Kollegen noch weit verdächtiger als sie es ohnehin schon waren. Für die Ermittler wirkte das wahrscheinlich, als das Verbergen von noch mehr Straftaten. Während in Bayern jeder Spur polizeilich nachgegangen wurde, erhielt die Einrichtung in Nordrein-Westfahlen Auflagen des Landesjugendamtes, die aber vom Träger nicht erfüllt wurden.
(Beide Leiter beharrten auf der Position „ich habe mir nichts vorzuwerfen“.)
In beiden Fällen wurde der Spitzenverband (VPK) nicht als helfendes Regulativ eingeschätzt und zu Rate gezogen.
Aber auch die Ordnungsbehörden insbesondere die Heimaufsicht informierten in beiden Fällen nicht oder (in Nordrein-Westfahlen) erst sehr spät den VPK.
In dem, vom Landesverband Bayern eingebrachten Ethik – StatutII wird unter dem Punkt 3 Prüfung und Ausschluss folgendes deutlich gemacht:
Verweigert sich ein Einrichtungsträger bzw. –leiter trotz begründeten Verdachts dem Verfahren, so kann er aus dem VPK ausgeschlossen werden. Dasselbe gilt, wenn nach erwiesenen Verstößen gegen das „Ethik-Statut“ 2. f) erkennbar nicht erfüllt wird.
Dieses Ethik-Papier ist ein anerkennenswerter Versuch sich dieser Thematik zu nähern, als Lösung scheint es nicht ausreichend zu sein. Die Idee, über die Selbstverpflichtung des VPK-Mitglieds Übergriffe erst gar nicht entstehen zu lassen, da sich jeder verpflichtet, diese nicht zu begehen, hätte seinen Charme,
wenn sich die Betroffenen in dieser Situation ihrer Handlungen immer bewusst wären. Dass dies besonders in den bekannten Fällen von Übergriffen nicht der Fall war und wir davon ausgehen müssen, dass dies die Regel ist, soll hier begründet werden.
Hätte dieses Ethik-Statut auf unsere drei Fälle einen Einfluss gehabt, wenn dies im Vorfeld bekannt und unterschrieben worden wäre?
Wahrscheinlich eher nicht. Alle betroffenen Leiter fühlten sich zu unrecht verdächtigt.
In 2 Fällen waren sich die Leiter sicher, verleumdet zu werden zumal die Vorwürfe zeitlich weit zurück lagen. Sie hätten sich sicherlich nicht gemeldet. Im anderen Fall wurde die mangelnde Informationsbereitschaft mit dem Krankheitsbild (Alkoholismus) entschuldigt. Also auch hier wäre keine Mitwirkungs- bzw. Informationspflicht erkennbar gewesen.
Beleuchten wir nun noch einmal die differenzierten Tatbestände, dann stellen wir fest, dass uns kein Fall bekannt ist der einen Vorsatz zu Grunde legt. Und wahrscheinlich sind Grenzüberschreitungen im Affekt und Vernachlässigung der Aufsichts- und Sorgfaltspflicht die häufigeren Vergehen mit denen wir es zu tun haben werden.
Wir können davon ausgehen, dass sich Betroffene mit einer vorsätzlichen Handlung gegenüber Schutzbefohlenen kaum um Hilfe an den Verband wenden werden. Und leider werden sich alle anderen Betroffenen ebenfalls kaum melden, einmal weil sie ihre Situation als unrealistisch unbegründet einschätzen und oder die Vernachlässigung durch ihre eigene gesundheitliche Situation gar nicht mehr erkennen können. Zum anderen ist es ein erheblicher Statusverlust einzugestehen, dass in der eigenen Einrichtung bzw. man selbst mit dem Vorwurf des Übergriffs gegen Schutzbefohlene umgehen muss. Dies unreflektiert von sich zu weisen scheint zunächst ein sehr nahe liegender Impuls zu sein.
Danach dürfen wir einschätzen, dass Vorfälle wie diese von den Betroffenen eher nicht gemeldet werden und sie nach dem Verständnis des bayrischen Ethik-Statuts vom Verband ausgeschlossen werden könnten. Dies ist auf Grund der bestehenden SatzungIII auch schon jetzt möglich. Wenn sich die Vorwürfe gegenüber dem Mitglied als verbandsschädlich erweisen, ist ein wichtiger Grund gefunden.
So stellt sich die Frage nach dem Vorteil eines Ethik-Statuts. Abgesehen von der Information die darin enthalten ist. Klärt er die Art und Weise, nach welcher der VerbandIV vorgehen wird, wenn es einen künftigen Vorfall gibt.
Einmal abgesehen, dass das Ethik-Statut ein gebotsorientiertes Modell darstellt ist die Vereinbarung des Verfahrens nicht schädlich. Es fehlt sicherlich die Finanzierung der Maßnahme, oder ist beabsichtigt, dass sich alle Mitglieder an der Aufklärung durch den Mitgliedsbeitrag beteiligen?
Es ist nicht geklärt, wie sich der Verband gegenüber Verbandsmitgliedern verhält, die diese Selbstverpflichtung nicht unterschreiben. Werden diese dann vom Verband ausgeschlossen, sind sie von Aufklärungen befreit oder wird es eher eine freiwillige Selbstverpflichtung – wie stellt sich der Verband dazu? Auch ist nicht geklärt wie mit dem Thema Datenschutz seitens der Vorstände umzugehen ist.
Verbände, insbesondere Berufsverbände sind politisch motiviert und die Gefahr ist gegeben, dass sich aus dem Ethik-Statut eine größere Einflussnahme vom Vorstand gegenüber dem Mitglied ergibt. Die Gefahr ist gegeben, dass dies machtmissbräuchlich von Vorständen genutzt wird.
Schon allein ein unbedachter Umgang mit den Informationen über betroffene Mitglieder ist kontraproduktiv aber nicht auszuschließen. Welche Mittel hat ein Mitglied, wenn es befürchtet dass mit seinen empfindlichen Daten, seitens des Vorstandes nicht stillschweigend verfahren, sondern diese gedankenlos oder gar zielgerichtet gegen das Mitglied verwendet werden. Die Frage nach Rechtsschutz ist hier zu stellen. Wer untersucht bei einem Verdachtv auf Datenmissbrauch durch den Vorstand genau diesen? Das betroffene Mitglied?
Einmal abgesehen davon, ob die Gremien des VPK Antworten auf die ungeklärten Fragen im Bezug auf die pragmatische Durchführbarkeit dieses oder eines ähnlichen Ethik-Statuts finden, muss man die Frage stellen, ob ein solches Ethik-Statut inhaltlich wirklich als Handreichung hilft, um Übergriffe gegen Schutzbefohlene in Einrichtungen von VPK-Mitgliedern zu verhindern.
Die bisherige Praxis hat gezeigt, dass nur wenige Kolleg/innen in der Lage sind, einmal in eine Notlage geraten zu sein, diese frühzeitlich dem VPK zu melden. Dies schließt in der Regel Übergriffsvorwürfe gegen Schutzbefohlene sowie auch wirtschaftliche Schieflagen ein. Viele denken, sie können ihre Probleme alleine beheben oder sie verdrängen die Situation.
In der Regel haben alle Träger Vorkommnisse von Kindeswohlgefährdung an ihre zuständige Heimaufsicht zu melden. Nach Aussagen einiger Mitarbeiter der Heimaufsichten von Brandenburg und Schleswig–Holstein ist dies bisher nur von VPK-Mitgliedern bekannt. In den meisten Fällen sind es Informationen von Dritten.
Wenn schon diese Meldepflicht kaum genutzt wird, weshalb sollte ein Ethik-Statut hier Abhilfe schaffen.
Auch künftig werden die Spitzenverbände damit rechnen müssen, Informationen über Missstände in Einrichtungen von dritten zu erhalten.
Die späte Information macht eine begleitende Hilfe des VPK-Mitgliedes seitens des Verbandes nur sehr schwer möglich. Die Erfahrung zeigt, dass die Einrichtungen fast immer verloren gehen. Entweder werden sie aufgegeben, von gemeinnützigen Trägern übernommen oder die Nachfolger sind keine VPK-Mitglieder.
Halten wir zusammenfassend fest:
• Eine VPK-Mitgliedschaft kann vom Vorstand mit 2/3-Mehrheit gekündigt werden, wenn das Mitglied dem Verband Schaden zugefügt hat.
• Die bekannten Vorfälle sind Übergriffe aus dem Affekt oder Übergriffe aus Nachlässigkeit gegenüber Schutzbefohlenen. Demnach kann vermutlich niemand ernsthaft behaupten, dass in seiner pädagogischen Arbeit ihm oder in seiner Einrichtung kein Übergriff im Affekt unterläuft.
Somit kann jeder potentielle Träger einen Übergriff gegenüber Schutzbefohlenen im Affekt leider nicht ausschließen. Das Ethik-Statut ist als normative Ethik keine Vorbereitung auf so einen unglücklichen Fall. Weder verhindert es Vorfälle, noch sind die darin enthaltenen Erwartungen gegenüber Mitgliedern realistisch.
• Das Ethik-Statut kehrt den Dienstleistungsgedanken des Verbandes ins Gegenteil um. Ein Mitglied ist auch deshalb Mitglied, weil es in Zeiten der Not Hilfe durch den Verband erfährt. Erstmals sind Bringepflichten zu erfüllen, die noch nicht einmal Landes- und Kreisjugendämter von Trägern der Kinder- Jugendhilfe fordern.
• Der einzige Vorteil eines Ethik-Statuts liegt in dem Versuch, öffentlich darzustellen, dass sich der Verband gegenüber Vorwürfen von Kindesmiss¬handlung in Mitgliedseinrichtungen positioniert. (ein Persilschein?)
Dies kann aber auch zu einem Bumerang werden, wenn das Ethik-Statut, wie ausgeführt, keine inhaltliche Hilfe darstellt, künftige Missstände nicht beseitigt und dies öffentlich wird.
• Könnte ein Ethik-Statut nicht auch eine gegensätzliche Wirkung in der Öffentlichkeit erzielen, frei nach dem Motto „die Privaten haben es nötig?“
Die Erfahrung hat gezeigt, dass bei den bekannten Vorfällen von Übergriffen gegenüber Schutzbefohlenen häufig Mitarbeiter oder ältere Betreute sich an die Öffentlichkeit wenden. Dies zeugt neben dem angezeigten Vorwurf zumindest von einer mangelnden vertrauensvollen Zusammenarbeit in der Einrichtung. Und dies ist ein Fall für die Qualitätsentwicklung und der Personalentwicklung.
Somit könnte Betriebsführung insbesondere Qualitätsentwicklung und besonders Personalentwicklung ein Indikator gegen Kindeswohlgefährdungen in Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtungen sein und Übergriffe an Kindern mindern oder verhindern. (Selbstevaluation könnte ein wichtiger Indikator gegen Missbrauch sein.)
Die Alternative heißt Aufklärung und aktives Handeln gegenüber dem Postulat Ethik-Statut.
Erste Schritte wären z.B.
1. Jedem Träger muss deutlich werden:
In jeder Einrichtung könnte ein potentieller Übergriff im Affekt gegenüber Schutzbefohlenen stattfinden.
2. Wer einen Übergriff frühzeitig seinem Spitzenverband meldet, kann mit solidarischer Aufklärungsarbeit seitens der Verbandsgemeinschaft rechnen.
3. Die Erfahrung hat gezeigt, dass staatliche Stellen die Unterstützungen der Spitzenverbände bei einem Übergriff eines Verbandsmitgliedes gegenüber Schutzbefohlenen begrüßen.
4. Die Spitzenverbände sind aufgerufen sich als Krisenmanagement für einen potentiellen Konfliktfall gegenüber staatlichen Stellen und Mitgliedern anzubieten.
5. Fortbildung im Bereich:
• Betriebsführung
• Personalführung
• Qualitätsentwicklung
sind seitens des Spitzenverbandes anzubieten und zu empfehlen, da Einrichtungen in denen ein konstruktives kritisches Miteinander herrscht kindeswohlgefährdende Handlungen vorbeugen.
6. Die Vorstände der Landesverbände sind aufgerufen ein Klima zu schaffen in dem Mitglieder über Nöte und Misserfolge austauschen können und sich sicher sein müsse, dass ihre Informationen nur mit ihrem Einverständnis Verfügung gestellt werden)
7. Gebotsorientierte Selbstverpflichtungen widersprechen dem Dienstleistungsgedanken des VPK und helfen wenig in der Sache. Empfehlungen und Informationsblätter zu diesem Thema als Einladung und Hilfsangebot sind dazu eine kundenorientierte Alternative.
8. Aufklärung tut Not:
„Wann ein Übergriff anfängt und wann Pädagogik aufhört.“ Ist ein gesellschaftsimmanentes Phänomen. Was gestern noch als pädagogisch unbedenklich galt, ist heute zu hinterfragen. Einrichtungen, die einen ausgesprochen autokratisch strukturierten Ansatz haben, sind gut beraten ihren pädagogischen Ansatz zu überprüfen. Spätestens mit Einführung des Paragraph 1631 Absatz 2 des Bürgerlichen GesetzbuchVI. sind bestimmte pädagogische Handlungen fragwürdig. (z.B. Festhalte-Therapie, Haltetherapie, Hausarrest, abgeschlossene Haustüren etc. um nur einiges zu nennen.)
Dänischenhagen den 27.07.05 Jochen Sprenger